Volkslied

Volkslied

 

Ein Einordnen der Volkslieder in Gattungen mag sinnvoll sein, gestaltet sich jedoch schwierig, weil das Leben, in dem das Volkslied beheimatet ist, sich nicht in Bereiche separieren lässt. Schon Goethe hat in seinem „Heidenröslein“ eine Volksdichtung imitiert; wir kennen es in der Volksliedfassung und als Kunstlied. Nicht alle Lieder, die von Singgruppen angeboten werden, nehmen die Menschen als „ihre“ Lieder an. Ein gesundes Empfinden für Qualität und Inhalt werden meist den Gebrauch steuern, der ein Lied zum Volkslied macht.

Der Nährboden für das Singen ist die Familie. Leider ist festzustellen, dass immer weniger gesungen wird. Wir machen die Medien verantwortlich. Unabhängig von einer Schuldzuweisung wäre es eine Aufgabe für Erzieherinnen und Grundschullehrerinnen, dieses Defizit zu abzufedern. Hier aber fehlt ein durchdachtes Konzept. Es gibt zwar viele neue Lieder von unterschiedlichem Geschmack, aber infolge fehlender Richtlinien, also eines verbindlichen Lieder-Kanons, kommt keine tragende Lied-Auswahl und folglich kein gemeinsames Singen zustande.

Dazu gesellt sich das stimmliche Problem. Die Stimmen von Grundschülern sind entweder zu schüchtern oder schreihalsig. Selten finden sich klare offene Kinderstimmen. Stimmbildung und Freude am Singen bleiben dann meist auf kirchliche Kindergruppen und Singknaben beschränkt. Selten, dass Grundschullehrer über ihre oft anstrengende Arbeit hinaus noch die Energie aufbringen, eine Fortbildung für Stimmbildung zu besuchen.

Staatliche Einrichtungen versagen auf dem Sektor Stimmbildung. Die Lehrerbildung für Grundschulen an den Universitäten für das Fach Musik muss als desolat bezeichnet werden. Bei einer Podiumsdiskussion, die vor mehreren Jahren Prof. Dr. Franz Brandl initiiert hatte, stellte Prof. Hoffmann von der Universität Regensburg fest, dass Lehramtskandidaten für Musik Prüfungen in 16 Disziplinen ablegen müssen, und fügte noch hinzu, dass infolge der Zersplitterung elementare Fähigkeiten auf der Strecke bleiben müssten. So konnte eine Studentin bei der Prüfung nicht einmal einen Kanon intonieren und er ahmte sie nach. Darauf meinte ich, das zeige doch, dass das Studium zu kopflastig konzipiert sei. Darauf Hoffmann: „Das war ja bei meinem Vorgänger.“ Ich meinte dann: „Aber bei Ihnen hat sich doch nichts geändert! Wenn ein Lehrer in der Schule singt, dann hat er es vielleicht in einer Volksmusiksingwoche gelernt, aber nicht an der Uni“.

Der optimale Pionier und Fachmann in Stimmbildung für Erwachsene und Kinder wäre Prof. Dr. Franz Brandl. Zum Schaden der Stimmbildung und des Singens überhaupt wurden seine Angebote von den zuständigen Institutionen abgeblockt. Brandl, Gründer und Leiter des Münchner Madrigalchors, arbeitete jahrzehntelang am Institut für Phonetik an der LMU, besuchte zahlreiche Symposien für HNO-Ärzte und Phoniater und klärte manche bislang ungelösten Probleme durch elektroakustische Messungen mit Kammersängern der Bayerischen Staatsoper. Seine wissenschaftlichen Forschungen und praktischen Erfahrungen fasste er in seinem Lehrbuch „Die Kunst der Stimmbildung auf physiologischer Grundlage“ zusammen, das von Fachleuten als Standardwerk der Gesangstechnik eingestuft wird. Brandl verfasste u.a. auch zahlreiche Beiträge in der Musikantenzeitschrift „Zwiefach“.

In den etablierten Ausbildungsstätten werden allerdings meist eher dubiose Methoden vertreten, die z.B. mit „Tonsitz“, „Atmungsstützen“ und anderen obskuren Anweisungen das hehre Gebiet „Stimme“ eher vernebeln. Ich selbst habe in verschiedenen Chören viele solcher Praktiken kennengelernt, von denen kaum eine meiner Stimme förderlich war.

Ein weiteres Problem findet sich an den Gymnasien: Bei vielen Musiklehrern sind deutsche Volkslieder verpönt. Vielleicht kann man sich mit englischen Songs besser anbiedern. Waren etwa die Schulchöre, die ich mit guter Interpretation deutscher Chormusik gehört habe, Ausnahmen? Die Tatsache, dass in zahlreichen Ländern – USA, Japan, verschiedene Staaten in Südamerika oder Afrika – gerade deutsche Volks- und Kunstlieder geschätzt und gesungen werden, sollte uns nachdenklich machen und motivieren.

 

Was sollte sich ändern?

In der Lehrerbildung müsste für jeden Lehrer physiologische Stimmbildung (nach Brandl!) und ein Tasteninstrument für die Begleitung gefordert werden. Immer noch ist zu wenig bekannt, dass die Studenten des Lehramts zwischen den drei Fächern Kunst, Sport und Musik wählen müssen, sodass es – auf Grund der staatlich verordneten Fehlplanung – Klassen gibt, die lediglich malen und zeichnen, andere, die lediglich Sport treiben und schließlich noch eine dritte Gruppe, die nur singt und dafür auf Zeichnen und Sport verzichten muss. Wahrlich toll!

Als ein weiteres gravierendes Problem zeigt sich das Fehlen eines verbindlichen Lieder-Kanons. Da jeder Lehrer aus dem Überangebot an „modernen“ Liedern nach eigenem Gutdünken Lieder auswählt, die von Liederfabrikanten, die glauben dichten und komponieren zu können, auf den Markt gespült werden, können bereits Kinder aus verschiedenen Klassen nicht mehr gemeinsam singen.

Dass insbesondere verschiedene Generationen sich nicht mehr musikalisch „begegnen“ oder austauschen können, hebelt die soziale Aufgabe des Singens vollends aus.

Schließlich und endlich geht es um Bildung überhaupt. Schon vor 2400 Jahren stellte der griechische Philosoph Plato (427 – 347 v. Ch.) ein Bildungskonzept vor, in dem der musische und der körperlich-sportliche Bereich die wichtigsten Säulen der Erziehung darstellen sollten. Höchstes Bildungsziel war dann die Philosophie.

Gegenüber diesen hehren Zielen mutet unsere von der Wirtschaft gesteuerte materielle Ausrichtung armselig und beschämend an. Otto Schily mahnte: „Fehlende Kultur gefährdet die innere Sicherheit“ (sinngemäß zitiert) und Prof. Blaschke : „Ein Volk ohne Lieder besitzt keine Identität“.

Um mit einem positives Aspekt zu enden möchte ich auf die enorme kulturelle Leistung der Kirchen verweisen: Woche für Woche werden Menschen eingeladen, qualitätvolle Lieder zu singen, begleitet von einem ausgebildeten Kirchenmusiker. Der Wert dieses Angebots ist mit Kirchensteuergeldern nicht aufzuwiegen. Hervorzuheben sind auch viele gute Sendungen des BR und Förderprogramme, z.B. von Anne Sophie Mutter.

Umfassende positive Impulse bietet das von Brandl gegründete „Amadeus-Institut. e.V.“, Institut für musikalische Aus- und Weiterbildung. Informationen im Internet:

http://www.amadeusinstitut.de

In unserer materialistisch geprägten Welt wäre Musik und Singen ein Schlüssel zu mehr Lebensfreude und Sinnspüren.

 

Franz Hämmerle

86949 Windach

 

Der Autor ist Theologe und Bildhauer, Chorleiter. Er singt und musiziert in verschiedenen Chören.

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