Was muss ein Lehrer können?

Was muss ein Lehrer können?
Was kann und soll er lernen?

Erfreulicherweise sind Kinder und auch Erwachsene, die sich „kindliche“ Fähigkeiten bewahren konnten, stark praxisorientiert. Gerade solcherart gepolte Menschen erreichen herausragende Positionen und Genialität. Man denke an Mozart, Bruckner, Brahms, Dalí, Kafka, Kierkegard und das Heer von Physikern.
Stets beginnt hochkarätiges Künstlertum und Wissenschaft von „unten“, in der Praxis. Das prominenteste Beispiel ist Einstein!
Deshalb erzähle ich jetzt einige Beispiele aus der Pädagogik, die einige Irrtümer zurechtrücken helfen:

a)) Der untrainierte „Sportlehrer“ W.:
W. war Schulrektor und hatte keine sportliche Ausbildung (deshalb die Gänsefüßchen in der Überschrift). Unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg war kein Sportlehrer zu bekommen. Also sprang kurz entschlossen der Rektor W. ein.
W. war hochintelligent und dabei schwer herzkrank.
Er konnte keine einzige Übung vorturnen, hatte aber die Anatomie und den Bewegungsablauf im Kopf. Er beschrieb die Übung, holte den jeweils besten Turner aus der Klasse (Klassenstärke 54 Buben) und half notfalls mit einem gezielten Griff nach, bis die Übung klappte. Die Klasse durfte nachturnen.
Wir haben bei diesem Unterricht sehr viel gelernt.

b)) Der Sportlehrer K.:
K. war angeblich in seiner „aktiven“ Zeit ein exzellenter Turner. Im Krieg hatte er einen Lungendurchschuss erlitten, der ihm den aktiven Sport nicht mehr gestattete. Wie der Rektor W. turnte er keine Übung vor, konnte uns aber auch die schwierigsten Übungen und auch Techniken in Leichtathletik (Wurfgeräte, Sprungdisziplinen) oder im Ballspiel beibringen. Sein Unterricht war für mich ein Genuss!

c)) Der Gesangslehrer R:
R. war ehemals Bassist an der Oper, hatte dann nach dem Ende seiner Karriere Akustik und Anatomie studiert und sich, da er genau beobachten konnte, viel praktische Erfahrung im Unterrichten erworben.
Er hat nie einen Ton vorgesungen, erklärte, beschrieb und kontrollierte jedoch die einschlägigen Körperfunktionen und Klangeigenschaften beim Singen. Er galt bei Studenten als Geheimtipp und war stets ausgebucht, obwohl der Unterricht teuer war.

d)) der amerikanische Gesangspädagoge R. aus New York:
R. wäre jetzt ca. 95 Jahre alt (ob er noch lebt, weiß ich nicht). Er galt als der weltweit prominenteste Gesangspädagoge. Ich durfte bei einer Gesangsstunde hospitieren. Wie der Pädagoge R. hat er nicht vorgesungen, sondern die Schüler durch Beschreibung des Stimmklangs und Einstellung von Haltung, Mimik und Körperspannungen durch das diffizile Terrain des Gesangsstudiums geführt.

e)) Der Waldorflehrer K.:
Der Lehrer K. sagte zu einem Praktikanten: „Kommen Sie bitte zu mir in die Klasse, ich zeige Ihnen eine Musikstunde“. Die Kinder der Klasse, etwa 35 Schüler im Alter von 12 Jahren, hatten ihre Instrumente dabei: Geige, Cello, Horn, Trompete, verschiedenen Holzblasinstrumente, Gitarre u.a.
K. hatte für jeden Schüler bzw. jedes Instrument ein Notenblatt vorbereitet. Man spielte im tutti einen Marsch von Händel. Dabei spielte K. den 4-stimmigen Satz auf dem Klavier mit.
Nach mehrmaligem Spielen fragte der Lehrer die Schülerin S.: „S., haben alle richtig gespielt“. „Nein“, antwortete die Schülerin, in der zweiten Stimme in Takt 7 haben einige f statt fis gespielt.“ „Danke! Kinder, ihr müsst an dieser Stelle alle fis spielen. Wisst ihr, ich bin musikalisch nicht so begabt, dass ich das höre. Aber S. hört genauer als ich“.
Noch eine Bemerkung:
Obwohl K. im Intonieren unsicher war, konnte er auf dem Klavier einen vierstimmigen Satz fehlerfrei abspielen. Er hatte sich das Klavierspiel erarbeitet, wie sich eine Sekretärin das Schreiben auf der Schreibmaschine aneignet.
Ein Vorbild für jeden Lehrer!

f)) Zwei Grundfehler
Fachlehrer in der Klasse:
„Der Lehrer (Grundschullehrer!) soll über eine geschulte und klangvolle Stimme verfügen“ lernt man in der Ausbildung. Durch sein Vorsingen soll er also die Kinderstimmen schulen.
Diese Forderung können beim besten Willen mindestens 90 % der Lehrer
nicht erfüllen. Da fehlen bereits die genetischen Voraussetzungen. Der hohe
Anspruch bewirkt leider, dass sich viele Lehrer an eine Singstunde erst
gar nicht heranwagen. Stattdessen will man Fachlehrer verpflichten. Diese Entscheidung halten wir für falsch.
Grund:
Singen ist kein Schulfach im üblichen Sinn, sondern eine kaum planbare spontane Gefühlsäußerung. In der Regel sollte mehrmals am Tag gesungen werden. Zeit und Dauer richten sich nach der psychischen Disposition („Bedarf“) der Klasse. Aus diesem Grund müsste der Fachlehrer stets greifbar sein. Er würde deshalb 95 % seiner Zeit untätig im Nebenzimmer sitzen und auf Abruf warten.
Ein weiterer Grund: Singen ist ein Geschenk, ein Gefühlsaustausch zwischen Lehrer und Schülern, es schafft ein „Familienatmosphäre“, die den Unterreicht zu einem „Fest“ machen kann.
Infantilisierung in der Musikpraxis
Immer wieder konnte ich bei gelegentlichen Kurzbesuchen in Grundschulklassen und Ausbildungsstätten (!) feststellen, dass
8- und 10-jährigen Kindern Lieder und Arrangements für 2- oder 3-Jährige angeboten werden. Dass da Kinder apathisch oder aggressiv werden, ist vorprogrammiert. „Fördern und fordern“ lautet eine allgemein akzeptierte Maxime. Leider besitzen die meisten Lehrer kaum Kenntnisse, die ihnen das „Fordern“ ermöglichen.

g)) Eine produktive Forderung
Musik und Singen früher: Der Lehrer H. war „Volksschullehrer“ nach der „alten“ Studienordnung. Die Ausbildung in Musik war so umfassend und gründlich, dass ein Teil der Lehrer professionelles Niveau erreichte (Schubert, Bruckner und Reger stammen aus dieser Tradition). Auf Grund seines großen Einsatzes und seiner pädagogischen Fähigkeiten hat H. die Kinder seiner Klasse (etwa 3. und 4. Klasse) im mehrstimmigen Singen geschult. Die meist dreistimmigen Sätze für Oberstimmen hat er z.T. selber verfasst. Wenn man heute feststellen muss, dass einstimmige Lieder überwiegend falsch gesungen werden, ist der Wunsch nach einer besseren (praktischen!) Lehrerbildung naheliegend.

Die Kinder sind heute so bildungsfähig und bildungsbedürftig wie eh und je, sie erhalten jedoch nicht, was ihnen zusteht.

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