Die Stimme: das größte Instrument
Wenn man von Musik für Kinder und Jugendliche spricht, denken unsere Zeitgenossen an das Erlernen von Instrumenten. Aber wenn es um Musik an Schulen geht, kreisen die Gedanken doch eher um die „Theorie“: Noten, Kadenzen, Formenlehre und vieles mehr.
Wir halten uns bei einem Vergleich der Instrumente an Aussagen großer Persönlichkeiten, die einhellig für das Singen votieren:
Leonard Bernstein bezeichnet die menschliche Stimme als „das größte Instrument überhaupt“.
Fréderick Hußler (Sänger, Stimmexperte und Gesangslehrer) begründet in seinen theoretischen Schriften, dass das Sing-Organ das „vollkommene Instrument“ ist.
Weitere derartige Bewertungen finden sich bei G. Ph. Telemann, Martin Luther, Carl Zuckmayer und weiteren Kunstschaffenden.
Ist diese Frage einer Bewertung einmal aufgeworfen, so möchte ich auf vier weniger
beachtete Kriterien hinweisen:
1) Singen beinhaltet seinem Wesen nach die Harmonik wechselseitiger Ergänzung. Es assimiliert alles Schöne und ermöglicht und gestaltet festliche Feiern.
2) Instrumentalisten höchster Qualität nähern sich ihrem Instrument singend: Häufig singen sie Teile ihres Repertoires, singen beim Üben mit, und sehen es als höchste „Kunst“, wenn sie das Instrumentalwerk auf ihrem Instrument singen (was auch sensible Kritiker bemerken und würdigen).
3) Kein Instrument kann Texte mitteilen, nur der Gesang kann das.
4) Gesang in der orthodoxen Kirche:
Im orthodoxen Gottesdienst werden alle liturgischen Texte ohne Begleitung gesungen: Es singen die Zelebranten, der Chor und die Gemeinde. Ein Instrument ist nicht zugelassen, nur die menschliche Stimme wird für würdig erachtet, sich an Gott zu wenden.
Folgerung:
Wenn ein Lehrer aus seiner Klasse einen „Chor“ formt, der Wohllaut verströmt, hat er das höchste Ziel erreicht, das Musik erreichen kann. Das Ergebnis ist Freude, ist Harmonie, an der Lehrer und Kinder partizipieren.
Leben und Wirken des Lehrers und Pädagogen Wilhelm Sommer*)
(aufgezeichnet am 6. März 1999 vom Autor nach Berichten seiner Tochter Maria*)
Herr Sommer wurde 1897 im Sudetenland geboren. Er besuchte eine Lehrerbildungsanstalt der alten Schule, in der die Lehramtsstudenten noch die drei Fächer Musik, Sport und Kunst lernten. 1939 wurde er zum Kriegsdienst eingezogen. Nach Kriegsende kam er in russische Gefangenschaft, aus der ihm nach kurzer Zeit die Flucht gelang und er sich auf abenteuerliche Weise nach Bayern durch schlug.
1947 wurde er Hauptlehrer in einem niederbayerischen Dorf, nahe Landshut. Mit Musik (damals hieß das Singen!) und Sport bemühte er sich, die emotionalen und sozialen Fähigkeiten seiner Schützlinge zu fördern.
Ein normaler Schulalltag verlief nach folgendem Schema:
Wilhelm Sommer begann um 8:00 h mit einem Morgenlied, dann folgte Mathematik.
Erste Erholungsphase: Sportliche Betätigung (Gymnastik, kurze Spiele)
Zweite Unterrichtseinheit (z.B. Deutsch)
Zweite Erholungsphase und zugleich Vertiefung der „kognitiven Inhalte“: geeignetes Lied.
Kurze Vermittlung eines Details aus der elementaren Musikkunde, entwickelt aus der Praxis.
Weiterer Unterricht mit entsprechenden Erholungsphasen.
12:50 h : Ausklingen des Unterrichts mit einem Lied.
13:00 h : Die Kinder hatten Freude an diesem Unterricht, wollten noch nicht nach Hause gehen, sondern weiter singen. Also wurde bis 13:30 h weiter gesungen.
Der Lehrer wollte die Kinder nach Hause schicken und forderte sie auf: „Es ist jetzt höchste Zeit für das Mittagessen; eure Eltern warten schon.“
Die Kinder entgegneten, ihre Eltern wüssten von der freiwilligen Singstunde und hätten die Verspätung einkalkuliert.
Das Ende dieses geliebten Schulalltags muss so um 14:00 Uhr gewesen sein : Kinder und Lehrer gingen singend nach Hause.
1962 trat Herr Sommer in den Ruhestand und ist 1970 verstorben.
Die ehemaligen Schüler des Lehrers Sommer erinnern sich noch heute voller Dankbarkeit an ihren Lehrer und an die schöne Schulzeit.
*) Namen von der Redaktion geändert
Nachtrag
Was braucht ein Lehrer für den musik-begleitenden / musik-begleiteten Unterricht:
a) Vertrautheit und Liebe zu wertvollen Liedern
b) Kenntnisse und gründliche praktische Erfahrungen in der physikalisch-physiologischen Stimmschulung
c) Liedbegleitung auf dem Klavier: das heutige E-Piano erspart teilweise das Transponieren. Zur Liedbegleitung verwende man im Normalfall eine von einem Fachmann konzipierte Vorlage. Das ist die beste Lösung. Natürlich können begabte und engagierte Lehrer die Begleitung selber entwerfen. Für diesen Fall schlage ich vor, die Begleitung schriftlich zu fixieren und nach satztechnischen Kriterien zu überprüfen (ohne eine gründliche Kenntnis der Harmonielehre ist eine so anspruchsvolle Aufgabe kaum lösbar).
© Prof. Dr. Franz Brandl